Da stehe ich nun und hadere. Sicher nicht der erste, der sich diese Gedanken macht, sicher nicht der letzte. Und da wären wir auch schon mitten drin. Folgende Beobachtungen, lose verknüpft, in den letzten Wochen gemacht: Begonnen hat es auf der Tagung der Sektion Kultursoziologie (diesem link nur auf eigene Gefahr folgen – keine Garantie für Design und Qualität der verlinkten Website) der DGS in Dresden am 20. und 21. Juni 2013 mit dem Titel: “Kultursoziologie im 21. Jahrhundert”. Auf dieser Tagung, so war mein persönlicher Eindruck, versammelte sich eine Reihe mehr oder weniger mutiger Vortragender, dicht verfolgt (!) von einer Riege ‘Alter Herren’ (mit einer weiblichen Ausnahme), welche die Vorträge kommentierten. Soweit, so gewöhnlich (auch wenn der Grad an Explikation dieses Verhältnisses schon beeindruckend war, war doch von Organisationsseite – die Idee ‘Junge’ tragen vor, ‘Alte’ kommentieren –  strukturell ins Programm eingeschrieben…. als hätte es dazu bedurft). Das Thema der Tagung war jedoch vielversprechend: Kultursoziologie im 21. Jahrhundert – das klang richtungsweisend, programmatisch, aufregend, irgendwie nach etwas Neuem.

Bis auf zwei Ausnahmen (Thomas Schmidt-Lux zur Kultursoziologie unter Bedingungen im Internet, und Alexander Leistner mit seinem Plädoyer für eine engagierte Soziologie, die sich aktuellen Problemen stellt, auch wenn das so schon von Boudieu gefordert wurde), bot die Tagung allerdings nichts, aber auch wirklich nichts neues. Ein abgedroschener Theoretiker nach dem anderen wurde bemüht, kein neuer Ansatz, keine  neue, aufregende Theorie, und noch viel weniger: irgendwelche Methoden oder wenigstens Methodologien wurden dem überwiegend ‘etablierten’ Publikum, wenn mir diese Elias Referenz als gefühlter ‘Aussenseiter’ erlaubt sei, zugemutet. Vor allem aber die Kritik an den einzigen beiden Vorträgen, die etwas wagten, war zum Schreien: in der Art: “Internet? da lesen Sie erst mal bei Marx nach” – wobei Marx wäre noch erfrischend gewesen; Plessner und Gehlen rauf und runter und wollte jemand zeitgemäss wirken brachte er Ameisen ins Spiel. Das war es dann aber auch schon. Vielleicht waren es die 40 Grad im Raum, aber wenn kampferprobte Querdenker wie Manfred Lauermann noch ihre Nerven und ihren Witz behielten, kann es eigentlich auch das nicht gewesen sein. Der Stein des Anstosses war geboten: Wie sollte man hier bestehen können, wie einem solch trägen Apparat wie einer Sektion zeigen, dass es sich lohnt auch mit neuen Augen zu sehen, die alten Brillen zumindest gelegentlich durch neue zu ersetzen oder zumindest einmal zu putzen? Kann es wirklich sein, dass man all das kennen, gelesen, zitieren, und dann hoffentlich – weil man bei der schieren Menge des Geschriebenen nur scheitern kann – etwas kreativ missverstehen muss, um wissenschaftlichen ‘Fortschritt’ (in einem temporalen, nicht einem teleologischen Sinn) zu dienen?

Eine zweite Episode nun vor einigen Tagen. Ein Eingeständnis zu Beginn: ich habe nie Philosophie studiert, kaum Philosophen gelesen, kenne keine Diskurse, keine autoritativen Interpretationen, und von Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts habe ich nur Kant (fast nicht), Hegel (verschwindend), Marx (das Übliche), Heidegger (einzelne Auszüge), Derrida (ein paar Aufsätze), und dann nur noch einige wenige, die von Soziologen stärker rezipiert wurden oder gar für Soziologen gehalten werden, gelesen. Ich habe, kann man also zusammenfassen, absolut keine Ahnung. Aber ernsthaft Sozial- oder Kulturtheorie zu treiben ist ohne diese philosophische Grundlage schlicht nicht möglich. Wie also beginnen (oder fortsetzen)? Fährt man dann zu Dussmann (wohnt man in Berlin, dann ist Dussmann eine gefährliche, geldverschlingende Anwesenheit…), ist das Regal erleichternd klein (also im Vergleich zur Kochbuchecke, Schundromanen, den Räumen voller Biographien, usw.). Und dennoch: ein kleines Regal voller “grundlegenden” Werken (so zumindest auf nahezu jedem Klappentext zu lesen). Das hält doch kein Mensch aus! Wer soll das lesen, und wie Gesellschaft und Kultur beobachten und diese Bücher ignorieren?

Zumindest Pierre Bayard ((Bayard, Pierre. 2009. Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Translated by Lis Künzli. München: Goldmann.)) beruhigt, wenn er schreibt, die Haupt-Beziehung, die selbst eine fleissige Leserin zu Büchern hat ist, dass sie sie nicht gelesen hat (oder so ähnlich – Buch gerade nicht zur Hand…). Eigentlich haben wir nahezu alles nicht gelesen. Also warum verzweifeln, es ist schlicht normal. Aber ist es das?

Fritz B. Simon sagt in einem kleinen aber immer wieder zu zitierenden Videointerviewschnipsel auf Youtube, dass Wissen heute nichts mehr wert sei. Es habe die Verfallszeit von Südfrüchten.

Und er mag recht haben. So hofft man. Aber ist das schon angekommen? Wie daraus lernen? Simon dreht es um und sagt: Wissen ist eine Form der Lernbehinderung – wenn ich etwas weiss (oder zu wissen glaube) muss ich nichts mehr lernen. Und man kann nur applaudieren, so Recht hat er.

Beruhigend ist dies alles aber nicht. Ganz im Gegenteil. Auf Veranstaltungen der DGS Sektionen, vor dem Philosophie-Bücherregal oder einem beliebigen Vortrag eines zufälligen Geistes- oder Sozialwissenschaftlers lauschend, wird einem der eigene Wissensschatz als zu gering bewusst. Zwangsläufig. Und das ist vermutlich gewollt (oder zumindest liegt es in der Form der Kommunikation begründet – über die Strategien der Akteure lässt sich bekanntlich nur mutmassen). Wer Wissen hat, und es auf einem beschwerlichen Weg des Wissenserwerbs gewann, um es nun in der so erreichten Position gewinnbringend einzusetzen, wird sicher nicht an einem Ansatz mitarbeiten, der eben jenes Wissen und damit die Berechtigung die besetzte Position zu halten, unterläuft. Da steht es also, das Regal im zweiten Stock im Dussmann; gleich hinter der Esoterik-Ecke. Und mit jedem Vortrag an Unis überall auf der Welt bekommt es mehr Gewicht. Ein Wunder, dass die Klappentexte noch so bescheiden sind. Grundlegend, richtungsweisend, ein Klassiker – das klingt fast noch harmlos.

Slavoj Žižek – auch so ein Philosoph von dessen bedeutender Bedeutung (oder zumindest: Popularität) ich erst kürzlich (vor ca. 2 Jahren) erfuhr – sagte ganz am Ende eines empfehlenswerten Vortrags (man sieht, ich tue es auch…) an der FU Berlin, dass im Denken eine Gefahr liegt. Die Welt heute zwingt uns jedoch so schnell zu leben, dass genaues, strenges Denken nicht mehr möglich ist. sei daher vor allem als ein Machtinstrument der Denkverhinderung zu verstehen: wer mit Credits und Workload überladen wird, hat schlicht keine Zeit mehr, genau zu denken, langsam zu lesen, etc. Und Recht hat er. Also Žižek.

Aber es ist eben nicht die ganze Geschichte. Langsamkeit des Denkens ist in der Wissenschaft vielleicht nicht mehr im Studium, sicher aber noch auf der Karriereleiter weiter oben strukturell fundiert: wer hier bestehen will, muss schlicht das Spiel beherrschen den immer noch älteren Theoretiker zitieren zu können. Es gewinnt wer jemand zitiert, den die andere nicht kennt, von dem man aber glaubhaft vermitteln kann, dass ihn zu kennen jedermann gezwungen sei, wollte er ernst genommen werden. Langsamkeit, Schnelligkeit, beides hier nur Bilder für Machtverhältnisse und Werkzeuge. Begründbar aber scheint folgende, mit immer stärkerer Gewissheit zu Tage tretende Beobachtung:

Die Diskrepanz zwischen etablierter Langsamkeit (Tradition und Fachdiskurs) und aufstrebender Schnelligkeit () geht einen unguten weiten Schritt auseinander. Dies macht die Situation für Nachwuchs nahezu unmöglich: es ist nicht zu zitieren, was im Studium nicht gelesen werden kann.

Den Druck dieser Situation spüren, und begegnen ihm, beide Seiten auf ihre eigene Weise. Die Jungen verzweifeln entweder an der Überforderung oder pfeifen auf die Tradition – beides verhindert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der absolut  und nach wie vor fundamental wichtigen Fachgeschichte des Denkzusammenhangs. Die Alten beschweren sich entweder über die Jungen, die schon in der Schule nicht mehr das Zeug lernen, dass man bräuchte für diese Uni (und mit dieser ist eine Uni gemeint, die es faktisch schon nicht mehr gibt, die aber auch nur um einen unbezahlbaren, autoritären Preis nur erhaltbar gewesen wäre) (siehe hierzu z.B. den an Selbstdenunzierung grenzenden Artikel von Georg Kamphausen in der FAZ vom 24.06.2012 ((Kamphausen, Georg. 2012. “Wie Studenten denken – Eine Stichprobe.” Frankfurter Allgemeine Zeitung, June 20, sec. Forschung und Lehre.)) – was nichts über Kamphausens Fähigkeiten aussagt und wohl mehr als Ausrutscher zu lesen ist) oder, oder meist: und, setzen umso mehr auf Strategien, die Macht erhalten, Autorität sichern, und neues Denken verhindern, oder zumindest verlangsamen. Das Neue ist das immer noch ältere (oder so ähnlich), sagt Stefan M Seydel in ((

Piazzi, Tina, and Stefan M Seydel. 2010. Die Form der Unruhe: Band 2 – Die Praxis. Vom Buchdruck zum Computer. Handlungsprinzipien zum Umgang mit Informationen auf der Höhe der Zeit. Vol. 2. Hamburg: Junius.

)) .  

Was ist nun die Lehre, die zu ziehen wir aufgefordert wären, würden wir uns um die Zukunft sorgen, wüssten wir nicht, dass 1.) eh alles anders kommt und 2.) als man denkt?
Wir brauchen Alte die Altes neu denken.
Wir brauchen Junge die Neues kühlen Kopfes denken.
Wir brauchen Alte und Junge, die zusammen denken.
Wir brauchen ein neues Verständnis von und eine Rückbesinnung auf das, was früher hiess: Forschung und Lehre gemeinsam zu denken. Dies und nur dies scheint die Bindung zu gewährleisten, die durch Macht und Zeit sonst verloren geht.
Schliesslich brauchen wir Alte, die Jungen sagen was zu lesen lohnt, und was nicht (etwas, das ich von Georg Kamphausen gelernt habe). Aber auch: Alte, die bereit sind Junge nicht mehr die gleichen Fehler machen müssen lassen (!), die sie einst machen mussten. Und schliesslich Alte, die vergessen und sich neues neu zeigen lassen. Das dies wichtig scheint, dafür scheint Altersdemenz nur ein (zugegeben etwas konstruierter) Hinweis. Aber wie sagte 

Katrin Passig 2012: das einzige echte und in der Evolution erprobtes Mittel gegen unpassende, überholte, alte Gedanken ist: man schafft den Kopf ab. Es fehlen heute schlicht die Schollen, auf die sich alte Gedanken setzen können, um neuen Platz zu machen. Anderes anders machen. So auch Tina Piazzi und Stefan M. Seydel ((Piazzi, Tina, and Stefan M Seydel. 2010. Die Form der Unruhe: Band 2 – Die Praxis. Vom Buchdruck zum Computer. Handlungsprinzipien zum Umgang mit Informationen auf der Höhe der Zeit. Vol. 2. Hamburg: Junius.)) Wir brauchen Leute, die Bücher wegschmeissen können. Gelesen, ungelesen, eingeschweisst ((Kenner lesen hier einen Verweis auf Harald Schmidt)). Nur durch Vergessen können wir erinnern, und Vergessen ist in Zeiten des Internets bekanntlich eine echte Schlüsselqualifikation geworden, die zu lernen alle gezwungen sind, die zu lehren aber überraschender weise nur die Jungen im Stande scheinen. Wer jetzt sagt: ‘das war schon immer so, das war auch schon so als wir damals studierten das los der Jungen’, der will es vielleicht auch nicht verstehen.  

8 Replies to “hättest du nur nicht #gelesen – wärst du nie #philosoph geworden

  1. Füher, als Student, dachte ich, daß eine gute Lösung des Ich-kann-ja-nicht-alles-Lesen-Problems ist, die unzähligen Soziologie-Klassiker in guter Sekundärliteratur abzufrühstücken, was dann, solange man sich nicht mit ihnen ausführlicher beschäftigen will, ein für allemal reicht. Von wegen, das Abarbeiten an den Alten scheint immer noch ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit zu sein. Als Leser fragt man sich dann oft, warum in so vielen Artikeln Inhalte von Soziologie-Einführungsveranstaltungen referiert werden. Und wie wissenschaftlicher Fortschritt, der ja ohne Einkochen der vergangenen Forschungs-/Erkenntnis-/Theorietradition – aus der er dann ein traditionell schmeckendes, aber neues Süppchen kocht – überhaupt stattfinden kann.

    Naja, die Kernkompetenz, die der junge Wissenschaftsaspirant sich aneignen muß, ist das Querlesen und beherzte Weglegen und nicht Weiterlesen von all solchen karrieremotivierten Schriften. Aber bitte nicht das Nicht-Lesen, das sich aus einer oberflächlichen (‘tschuldigung) Interpretation von Bayertz’ Buch rechtfertigen will. (Und sich dann doch seine Lebe-Räume nur mit gemütlichen Buchrückenkaskaden verschönern…)

    Aber wer tatsächlich Karriere machen will und nicht das Geld hat, sich nur der inhaltlichen und nicht der institutionellen Seite der Soziologie zu widmen, beißt in den sauren Apfel und betreibt die notwendige Klassiker-Huldigung, die gerne als Einordnung in den soziologischen Diskurs verbrämt wird. Oder aber er ist von vornherein nur ein glitschiger Karriere-Aal und findet den Apfel süß.

  2. Absolut! Ich kann nur zustimmen! Süsser Apfel, Karriereaal und Wissenschaftsaspirant (das klingt sogar schon nach dem Schweisse ihres Angesichts, sozusagen). Die Frage, die ich mir stelle, ist aber schon, ob dies immer so bleiben muss, bzw. wie sich diese Diskrepanz des Lesens/Nichtlesens explizit und ehrlich wenden lässt. Bayard habe ich vermutlich nicht oberflächlich (wenn auch in deutscher Übersetzung) gelesen; seine Pointe ist ja gerade nicht, dass man nicht lesen sollte, sondern, dass Nichtlesen (in seinen Varianten: a) schlicht Nichtlesen, b) Querlesen (also nicht alles lesen), c) Bücher nur vom Hörensagen kennen (also nicht selber lesen), d) Bücher wieder vergessen (also quasi wie a)…)) unsere eigentliche Beziehung zu Geschriebenem darstellt, (vor allem in der Wissenschaft, könnte man hinzufügen) aber so getan wird, als ginge es ums Lesen und das sei es wofür geschrieben würde.
    Wofür ich plädiere, wäre ein expliziter, offener Umgang mit dem Umstand, dass wir nicht alles Lesen können, dass dies immer weniger der Fall sein wird (weil immer mehr geschrieben worden ist) und noch dazu dieses Ungleichgewicht strukturell zu Ungunsten des Nachwuchses, zur Belastung der Etablierten und letztlich auf Kosten des ganzen Spiels verschärft wird. Ich glaube nämlich nicht, dass das Spiel des Nichtlesens/Lesens der Wissenschaft Schaden nimmt, wenn man es durchschaut, nur wenn man es derart wie momentan verschärft.
    Was wir bräuchten wäre eine Wertschätzung des Nichtlesens und eine realistischere Geringschätzung des Lesens – und die Möglichkeit daraus Konsequenzen für Uni, Forschung und Lehre zu ziehen.

  3. Na dann hab ich Dir dreist die aus sms’ Tweet sprechende Interpretation von Bayertz unterstellt, nochmal ‘tschulle.

    Offen mit Halb- oder gar nicht Gelesenem umzugehen, können und wollen sich wohl nur die etablierten Alten leisten. Mündlich alllerdings, in nicht ganz so öffenlicher Runde hab ich sowas in süffisanten Nebensätzen allerdings auch schon mal gebracht. Hm, wahrscheinlich wäre der humorige-verbrüderische Tenor (nach dem Motto “kenn ich leider nur vom Hörensagen, aber das kennen Sie ja auch, man kann ja nicht immer alles von vorne bis hinten durchlesen, höhö…”) eine erste Möglichkeit, langsam diese leicht verlogene Erwartungen, die keiner erfüllt, was aber kaum jemand zugibt, aufzubrechen.
    (Hm-2: ist eine willentliche Normänderung durch Humor generell erfolgsversprechend?)
    Am Ende könnte dann irgendwann vielleicht eine Wertschätzung des Nichtlesens herauskommen.

  4. ganz herzlichen dank für deine appelle in den unteren beiden absätzen! besonders: “Wir brauchen Alte und Junge, die zusammen denken.
    Wir brauchen ein neues Verständnis von und eine Rückbesinnung auf das, was früher hiess: Forschung und Lehre gemeinsam zu denken.”

    ausgehend von einem ähnlichen grundgefühl [daseinsbewältigung v. nachwuchswissenschaftlern] fand ich zwei einschätzungen zunächst zu pessimistisch: die benannte veranstaltung war ja eben die performative würdigung eines alten und vor allem durch zu strenges zeitregime verblieb es in den diskussionen häufig bei waldorf&stadler-esken anmerkungen der “alten”. den bezug auf “die alten theorien” finde ich als dogma auch schwierig, aber gerade vor der von dir aufgeworfenen problematik “was kann gewusst werden” funktional: das wiederholte ausdeuten der klassiker vom jeweils aktuellen standpunkt macht sie doch erst zu eben jenen. ich glaube, dass der auf der veranstaltung präsentierte ausschnitt an gemeinsam geteilten “klassiker”-theoriebestand sehr spezifisch ist: sowohl im schwerpunkt (philosoph. anthropologie) als auch ind ers ektionshistorie (abgrenzungskampf strukturtheorien i.d. 70ern, jetzt dresden-bias).

    meine “strategie” im umgang mit der strukturellen überforderung vorhandenes wissen/anzuwendendes wissen schließt ganz genau an dem an, was dein appell fordert: im gespräch, im austausch mit unterschiedlich geprägten soziologinnen unterschiedlicher generationen erzählen was man macht, hören was der andere dazu weiß und dann wieder mit anderen darüber reden. furchtbar banal ich weiß, aber mir fällt diese position auch leichter, weil ich mit meinem verständnis von soziologie einen geringeren anspruch an die produktion “wahren weltwissens” verknüpfe, als ich es dir unterstellen würde.

    die folge “meiner” “strategie” ist aber ach, dass man bei konsequenter anwendung keinen zentrierten überblick gewinnen kann, wie es die klassische vorstellung vom wissen des professors als elder states man seiner disziplin impliziert. ich sehe eher engagierte weltausdeuter im wettstreit.

    • Merci für den Kommentar. Unbedingt stimme ich dir zu, dass der Bezug auf alte Theorien sich keinesfalls erübrigt hat. Müsste man das Rad ständig neu erfinden, wäre ja nicht einmal temporaler Fortschritt zu bezeichnen, geschweige denn irgendeine Form der Theorieentwicklung. Klar auch, dass Klassiker erst durch Ausdeutung zu diesen werden, genauer: durch die Nutzbarmachung der den Klassikern zugeschriebenen Fragestellungen, mehr als ihren spezifischen, historischen Lösungsangeboten. Meine Kritik richtete sich aber vor allem gegen die von mir beobachtete Erkenntnisverhinderungsfunktion, oder zumindest die Funktion Beobachtungsveränderungen im Fach dramatisch zu verlangsamen, nicht der Klassiker (wie auch, sind ja tot) sondern der Klassikerausdeutung! Und eben jene, so die These, wird heute eingesetzt um die Diskrepanz zwischen jung und alt zu verschärfen… aber gut, der Punkt ist vermutlich klar geworden.

      Ich weisse streng jede Unterstellung des Versuchs der Produktion “wahren Weltwissens” zurück – konstruktivistisch betrachtet absurd. Tatsächlich liegt mir nichts ferner! Wirklich gar nichts! Gut. Bestimmte Traditionen subjektivistischer Ansätze der Soziologie vielleicht… anderes Thema. Die Möglichkeit also, dass Soziologinnen unterschiedlicher Generation zusammenkommen um sich gegenseitig zu erzählen was sie machen, finde ich also grundsätzlich eine gute Sache. Nur m.E. ist dies nicht die Krönung der Fruchtbarmachung der so verfügbaren Differenzen (zwischen Perspektiven, Alter, Erfahrung, Ideen, Beschäftigungsfelder, Zukünften, Herkünften, usw.). Wiederhole mein Plädoyer – leicht verändert: solche Zusammenkünfte müssten besser denkbar sein. Soziologie, wie sie sich dort darbot, war mir zu langsam, zu starr, zu sehr Klassentreffen (einer deutlich ergrauten Schar von Alumni) – und dabei könnte es auch um Überraschungen gehen, gegenseitige Provokationen, das Aufbrechen lang gehegter Erwartungen und Denkgewohnheiten, eine echte Bereicherung eben… Mein Urteil ist hier sicherlich zu scharf und überspitzt. Sicher war dies ein und nur ein möglicher Eindruck und andere haben sehr viel mehr mitnehmen können. Ich möchte auch gar nicht zu stark verallgemeinernd die Tagung schlecht reden (ist auch nicht möglich auf einem weitgehend nicht gelesenen Weblog wie dem meinen…). Meine Vermutung zielt auch etwas anders: es ist ja nicht die Tagung, sondern vielmehr ein strukturelles Problem mit zahlreichen Bedingungen und Möglichkeitshorizonten, aber eben auch eine Chance für Veränderung.

      Die Hoffnung, dass es ein Wettstreit engagierter Weltausdeuter ist (oder wird), finde ich schön. Und auf Ebene der Traditionen und Schule herrscht ja auch ein bereitwilliges wechselseitiges Ignorieren der unterschiedlichen Ansätze 8aus mehr oder weniger lauteren Gründen). Auf der Ebene der wissenschaftlichen Argumentation aber sieht es anders aus. Dort kann die andere Sicht nicht grundlos ignoriert werden, und Weltdeuter präsentieren sich (und ihre Weltdeutung) eben doch als im Wettstreit mit allen erfolgreiche(n) Sieg(er). Und schliesslich, zurück zum Problem: auf Ebene von Forschung und Lehre, Mittelbau und Professorium, und in all den oben erwähnten Unterscheidungen, scheint mir dies wenn nicht heute, dann sicher morgen, wenn Bologna voll angekommen ist (oder besser: durchschlägt), ein noch dramatischeres Problem zu werden. Die Probleme vermischen sich, zugegeben. Aber sie lassen sich empirisch eben auch nicht trennen. Einzig die Lösungsideen sind rar.

  5. Was mir – im Moment jedenfalls – bedeutender vorkommt, als nicht alles lesen zu können, ist, nicht schreiben zu können. Und damit meine ich nicht: nicht alles schreiben zu können, sondern radikaler: überhaupt nicht schreiben zu können. Nicht schreiben zu können, weil man niemals alles lesen kann, was man lesen sollte, bevor man zu schreiben beginnt. Bayard kann da trösten, helfen kann er nicht. Man müsste immer noch herausfinden, welcher Grad des Nicht-Lesens angemessen ist, um trotzdem darüber zu schreiben.

    Aber auch die Zweifel am Schreiben selbst sind ja schrecklich ausgelutscht. Kann es überhaupt noch eine neue Art oder einen neuen Anlass geben, sie zu äußern? Sind Schreibhemmungen nicht das banalste, worüber man als schreibender Mensch schreiben kann?

    Vielleicht handelt es sich dabei sogar um eine Variante desselben Problems (also deine Tagungserfahrung und mein Nicht-Schreiben), Neuheit zu konstruieren. Die Stimme, die mich vom Schreibtisch wegzerrt, um erst noch einmal nachzulesen, ob das alles nicht doch schon einmal geschrieben wurde oder eigentlich anders gemeint war, klingt vermutlich und nicht ganz zufällig sehr ähnlich wie die Riege älterer Herren auf dieser (oder irgendeiner anderen) Tagung. Die häufigste Strategie ist ja, das (vermeintlich) Neue auf (vermeintlich) Altes zurückzuführen. Also nicht: “Das ist nicht wahr, lesen Sie mal bei Simmel nach…”, sondern: “Steht alles schon bei Weber!”*. Das ist sicher kein Problem, was sich durch Weber-Lesen umgehen ließe (oder, wie hier diskutiert wird, durch die Akzeptanz des Nicht-Lesens): Es gibt immer Leute die Weber anders gelesen haben. Ich glaube, es ist eher die Frage, wie sich Neuheit in einer Situation konstruieren lässt, in der strukturelles Misstrauen herrscht.

    Naja, mein Senf. In einem Schreibkurs habe ich ja mal gelernt, man soll sich zuerst “locker einschreiben”. Zum Beispiel mit Mails oder überflüssigen Kommentaren wie diesem hier.

    *Aber wenn ich so an meine (zugegeben geringe) Tagungserfahrung denke, dann ist das auch in etwa die Reaktion, die die meisten Beiträge bei mir auslösen.

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